Wozu ein Chamäleon röntgen? Die Röntgenvideographie erlaubt einen Blick unter die Haut und macht Bewegungen sichtbar, die von außen nicht zu sehen sind. Gerade diese Bewegungen entscheiden oft darüber, ob ein Tier schnell laufen, hoch springen oder gut klettern kann. Das Jemen-Chamäleon (Chamaeleo calypratus) ist wie alle Chamäleons ein Meister der Balance. Es pirscht sich an Insekten an und fängt sie mit der langen klebrigen Zunge. Erfolgreich ist eine solche Jagdstrategie nur dann, wenn man nicht bemerkt wird. Eine gute Tarnung ist vorteilhaft und es gilt, sich so zu bewegen, dass der Zweig, der oftmals Jäger und Beute gleichzeitig trägt, nicht in Schwingung versetzt wird.
Um zu verstehen, wie Chamäleons das machen, braucht man etwas Biomechanik. Durch die Fortbewegung werden Kräfte auf den Untergrund übertragen. Den größten Anteil daran hat das Körpergewicht. Bewegt man sich langsam mit großen Schritten, wird das Gewicht so über die Zeitspanne eines Schrittes verteilt, dass die Maximalkräfte klein bleiben und keine Schwingungen entstehen. Das macht jedes Tier, wenn es sich anschleicht, auch eine Katze. Die Stange, auf der das Chamäleon im Versuch läuft, ist mit Kraftsensoren gekoppelt, um die Kräfte messen können. Langsam laufen vermindert also Schwingungen des Untergrundes, bringt aber ein neues Problem: Balance. Wie ein Fahrrad hat auch ein Tier eine sogenannte dynamische Stabilität durch seine Bewegung. Diese steigt mit der Laufgeschwindigkeit. Bewegt man sich langsam, muss viel Muskelkraft aufgewendet werden, um den Körper in Balance zu halten. Der Kraftaufwand kann jedoch durch bestimmte Bewegungen des Rumpfes und der Gliedmaßen gemindert werden. Chamäleons, die ja Reptilien sind, haben dafür ganz ähnliche Anpassungen erworben wie kletternde Säugetiere, z.B. Affen oder Eichhörnchen. Die Evolutionsforschung spricht von Konvergenz, wenn Tiere, die nicht näher miteinander verwandt sind, für gleiche Probleme ähnliche Lösungen entwickeln. Und an diesen Lösungen ist nicht nur die Evolutionsbiologie interessiert.
Das Wissenschaftsgebiet der Bionik setzt solche Strategien in die Technik um, aber nicht als Kopie der Natur (das ist Biomimetik). Ratnik, ein biologisch inspirierter Kletterroboter, seinerzeit entwickelt in einer Kooperation zwischen Biologie, Biomechatronik und Robotik, sieht weder dem Chamäleon noch einem anderen tierischen Kletterexperten ähnlich. Er ist vielmehr eine Chimäre, die die vorteilhaftesten Lösungen verschiedener Tiere vereint.
PD Dr. Manuela Schmidt
Sammlung: Jena Collection of X-ray Movies
Literatur: Fischer, M. S.; Krause, C.; Lilje, K. E. (2010): Evolution of chameleon locomotion, or how to become arboreal as a reptile. Zoology 113, 67-74. Doi: 10.1016/j.zool.2009.07.001