Object of the month

Ein Doppelschritt in Stahl und Seide

Räumliches Modell zur Bewegung beim Gang des Menschen nach Otto Fischer (Farbfotos Marcus Rebhan; SW-Abbildungen aus Fischer 1895)

Unser sehr abstraktes und zugleich besonders ästhetisches Objekt stammt aus der Anatomischen Sammlung. Laut dem historischen Etikett handelt es sich um ein „Modell der Bewegungen beim Gang des Menschen nach Prof. Otto Fischer“ mit dem Erwerbsjahr 1899. In den Sammlungsunterlagen ist zusätzlich notiert: „Von Mechanicus E. Zimmermann in Leipzig für 40 Mark gekauft“, ein entsprechendes Herstellerschild ist auf dem Holzsockel des Modells angebracht. Die Werkstätte wurde 1887 gegründet und war weltweit für Experimentier-Apparate bekannt, die sie nach Ideen des Psychologen Wilhelm Wundt anfertigte. Unser Modell in „1/10 Lebensgröße“ findet sich als Nr. 3985 noch mindestens bis 1928 in Zimmermanns Verkaufskatalog. Der beigefügten Erklärung zufolge sind „21 Bewegungsphasen während eines Doppelschrittes“ dargestellt. Als Grundlage dient ein filigraner schwarzer Metallrahmen, der horizontal von wellenförmigen Stegen durchzogen ist. Sie bilden die Bewegungen von Schultergelenk, Ellenbogengelenk, Hüftgelenk, Handgelenk, Kniegelenk und Fußlängsachse ab. Oben auf dem Rahmen befinden sich 21 verschieden lange Stecknadeln, die die Wellenlinie des Kopfscheitelpunkts nachzeichnen. Auch seitlich sind an allen Stegen solche Nadeln angebracht und mit farbigen Seidenfäden linienartig verbunden. Die einzelnen Linien zeigen die Körperhaltungen während des Gehens als „Standbilder“ mit jeweils einem Abstand von etwa 1/20 Sekunde. Das Modell ist das Ergebnis eines Experiments zur menschlichen Ganganalyse, welches die Leipziger Mediziner Otto Fischer und Wilhelm Braune im Juli 1891 unternahmen. Fischer hatte einer Versuchsperson in stundenlanger Arbeit einen schwarzen, mit isolierenden Scheiben versehenen Anzug angelegt und daran Gasentladungsröhren aus Glas befestigt. Diese waren über lange Drähte mit einem Ruhmkorff-Induktionsapparat an der Zimmerdecke verbunden. So konnte die Versuchsperson ohne die Gefahr eines Stromschlags mehrere Meter frei gehen, während Spannungsimpulse den verdünnten Stickstoff in den Röhren zum Leuchten anregten. Bei Nacht wurden dann mittels Stimmgabel mehrere Fotoapparate wiederholt elektrisch ausgelöst, die den gehenden Mann aus verschiedenen Perspektiven aufnahmen. Jede einzelne Aufnahme wurde anschließend mit einer präzise im Raum platzierten transparenten Koordinatentafel erneut belichtet. Die Berechnungen zur mathematisch genauen Beschreibung der einzelnen Kurven dauerten Monate. Am Ende entstand neben der fachlichen Publikation auch das räumliche Modell.

Dr. Ulrike Lötzsch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Anatomische Sammlung

Räumliches Modell zur Bewegung beim Gang des Menschen nach Otto Fischer

Inventarnummer: UeM 008

Material: Holz, Metall, Glas, Seide, Papier

Maße (mit Haube):  H 26,5 cm x B 38,5 cm x T 17 cm

Quellen:

Vermehrungsbuch Anthropotomische Sammlung incl[usive] Allgem[eine] Anatomie. Jena ca. 1858-1943. Digitalisat: collections.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/HisBest_derivate_00018375/SV_XV_072.tif

Gundlach, Horst: In Sachen E. Zimmermann – Ernst oder Emil??? Ein Vademecum für Herrn Professor Wundt. 1985. PDF: www.psycharchives.org

E. Zimmermann: Psychologische und Physiologische Apparate. Liste 50. Leipzig und Berlin 1928.

Fischer, Otto: Beschreibung eines neuen Modells zur Veranschaulichung der Bewegungen beim Gang des Menschen. In: His, Wilhelm/ Bois-Reymond, Emil de (Hg.): Archiv für Anatomie und Physiologie. Anatomische Abtheilung. Jg. 1895. Leipzig 1895. S. 257-264.

Fischer, Otto: Der Gang des Menschen. 1. Teil: Versuche am unbelasteten und belasteten Menschen. Abhandlungen der mathematisch-physischen Classe der Königl. Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften, Bd. XXI, Nr. IV. Leipzig 1895.