Objekt des Monats

Ein Mittel gegen die Syphilis: Der Durchbruch der Chemotherapie

Aus der Medizinhistorischen Sammlung am UKJ: Myo-Salvarsan, 1945

Der Mediziner Paul Ehrlich (1854–1915) gilt als Begründer der Chemotherapie (1, 2, 3). Neben seinen Studien zur Immunologie, die ihm 1908 den Nobelpreis für Medizin einbrachten, ebnete Ehrlich mit seinen Untersuchungen an Farbstoffen den Weg zur Synthese des Salvarsans (Salv-arsan = ein Arsen, das heilt) (1, 2, 4).

Diese organische Arsenverbindung, von den Farbwerken Hoechst ab 1910 im industriellen Maßstab produziert, stellte die erste wirksame Therapie der Syphilis und zugleich das erste mithilfe chemischer Modifikation systematisch entwickelte antimikrobielle Chemotherapeutikum dar (4, 5). Zusammen mit den in den Folgejahren entstandenen Derivaten ermöglichte das Salvarsan einen Rückgang der Anzahl primärer und sekundärer Syphilisfälle bis 1928 um zwei Drittel (2, 6). Nichtsdestotrotz barg die Anwendung des Mittels aufgrund hoher Anforderungen an die Hygiene und Injektionstechnik sowie einer raschen Oxidation zu toxischeren Abbauprodukten ein erhöhtes Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen (7, 5). Daher erweiterte auch bereits 1912 das wasserlöslichere und damit für die intravenöse Verabreichung geeignetere Neosalvarsan den Arzneischatz (2, 7, 8). Es stellte noch bis Mitte der 1930er-Jahre das gebräuchlichste Salvarsan-Präparat dar (9).

Das hier abgebildete Myosalvarsan in der Medizinhistorischen Sammlung am Universitätsklinikum Jena erlangte 1926 seine Marktreife (6). Obwohl es schon 1911 entdeckt wurde, präferierten die Farbwerke Hoechst zunächst andere Mittel (10). Die ebenfalls 1926 eingeführte staatliche Aufsicht über die Prüfung von Salvarsan-Präparaten dokumentiert, dass dieses Exponat im Oktober 1945 geprüft und freigegeben wurde (7). Wie Salvarsan und Neosalvarsan war Myosalvarsan ein gelbes, in Wasser lösliches Pulver (9, 11). Im Gegensatz zu seinen bekannteren Derivaten wurde es allerdings nicht intravenös, sondern subkutan oder intramuskulär verabreicht und hatte demgemäß eine langsamer einsetzende und länger anhaltende Wirkung (7, 10). Zudem war es weniger oxidationsempfindlich und weniger toxisch, was die Handhabung vereinfachte (6, 12). Wie Einzelfallberichte verdeutlichen führte aber auch das Myosalvarsan teilweise zu Vergiftungen und schweren Nebenwirkungen mit Todesfolge (13, 14). Der ausführliche Beipackzettel des Präparats, der auch die Richtlinien für die Anwendung der Salvarsan-Präparate vom Reichsgesundheitsrat wiedergab, ist an den Anwender, in diesem Fall den Arzt, gerichtet und listet Indikationen, Anwendung und Dosierung, Vorsichtsmaßnahmen bei der Behandlung, Kontraindikationen, Nebenwirkungen, chemisch-physikalische Eigenschaften, die staatliche Prüfung sowie die Zubereitung der Lösung auf. Demnach wurde das Mittel bei jeder Form der Syphilis angewendet, falls eine intravenöse Gabe aus verschiedenen Gründen nicht möglich war, bspw. bei zu tief liegenden oder durch Fettpolster verdeckten Venen. Empfehlungen zur Behandlung verschiedener Stadien der Syphilis gab der Beipackzettel nicht, obwohl bei Frühformen, die eine schnelle Stoßbehandlung erforderten, eine intravenöse Therapie mit Salvarsan oder Neosalvarsan zu bevorzugen war. Bei einer Spätsyphilis hingegen, bei der Gefäße und innere Organe betroffen waren, war Myosalvarsan wegen des langsameren und schonenderen Wirkungseintritts vorzuziehen (12). Daneben bewarb der Beipackzettel bei auftretenden Nebenwirkungen die Anwendung anderer Arzneien, bspw. das ebenfalls von den Farbwerken Hoechst hergestellte Pyramidon zur Behandlung von Kopfschmerzen (1, 2). Von diesen Kritikpunkten abgesehen enthielt der Beipackzettel jedoch auch für den Arzt essentielle Informationen. Die Anwendungserklärung wies deutlich auf den vom Salvarsan und Neosalvarsan abweichenden intramuskulären Applikationsweg hin. Weiterhin enthielt die Beschreibung zur Bereitung der Lösung eine Ermahnung an den Arzt, für jeden Patienten eine frische Lösung herzustellen. Diese Anweisungen senkten das Risiko falscher Handhabung, von der Ehrlich schon im Falle des Salvarsans überzeugt war, dass sie einen großen Teil der schädigenden Wirkungen verursacht hatte (7). Darüber hinaus förderten die Vorsichtsmaßnahmen einen sorgsamen Umgang sowie eine gewissenhafte Behandlung und Beobachtung der Patienten. Insbesondere beim Auftreten von Exanthemen wurde die Unterbrechung der Therapie empfohlen. Auf diese Weise leistete der Beipackzettel einen Beitrag zur Erhöhung der Arzneimittelsicherheit, indem er das Risiko einer falschen Anwendung verringerte. Er war damit zugleich auch ein Teil der Erfolgsgeschichte der Salvarsane, die das Potential zielgerichteter Therapien demonstrierte und so der Chemotherapie zum Durchbruch verhalf. Nach dem Zweiten Weltkrieg traten schließlich die Antibiotika an die Stelle der Salvarsane und setzten den Siegeszug der Chemotherapie fort (4).

Manuel Busching, Prof. Dr. Christoph Friedrich

Literatur:

  1. FRIEDRICH, Christoph / Wolf-Dieter MÜLLER-JAHNCKE: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Eschborn 2005 (Geschichte der Pharmazie / R. Schmitz;
  2. MÜLLER-JAHNCKE, Wolf-Dieter / Christoph FRIEDRICH / Ulrich MEYER: Arzneimittelgeschichte.
    1. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 2005.
  3. HÜNTELMANN, Axel C.: Paul Ehrlich. Leben, Forschung, Ökonomien, Netzwerke. Göttingen 2011.
  4. FRIEDRICH, Christoph: Paul Ehrlich. Von der Immunologie bis zu Salvarsan. In: Pharmazeutische Zeitung 149 (2004), S. 808–812.
  5. HELMSTÄDTER, Axel: 100 Jahre Salvarsan. Chemisch auf Erreger zielen. In: Pharmazeutische Zeitung 155 (2010), S. 4844–4851.
  6. ALT, Susanne: Quantensprung oder Me-too – Arzneimittelinnovationen im 20. Jahrhundert. Diss. rer. nat. Frankfurt 2018.
  7. SAUERTEIG, Lutz: Mit Chemie gegen die Syphilis – Anfänge der Chemotherapie um Paul Ehrlich und die DMW. In: Deutsche medizinische Wochenschrift 125 (2000), S. 95–96.
  8. RIED, Walter A[nton]: „Arsen und Spitzenforschung“. Ausstellung über Paul Ehrlich in Frankfurt. In: Deutsche Apotheker Zeitung 155 (2015), S. 5146–5148.
  9. FRANCK, Rudolf: Moderne Therapie [in innerer Medizin und Allgemeinpraxis. Ein Handbuch der medikamentösen, physikalischen und diätetischen Behandlungsweisen der letzten Jahre. 8., verm. u. verb. Aufl., Berlin] 1936.
  10. ULLMANN, K[arl]: Erfahrungen und Bemerkungen über das Myosalvarsan. In: Klinische Wochenschrift 7 (1928), S. 650–655.
  11. BOEGER, Harald: Die akuten Vergiftungen durch Phosphor, Salvarsan und Bor. Bonn 1937; ursprünglich Diss. med. Bonn 1936.
  12. HOFMANN, Edmund: Das Myosalvarsan (Ein klinischer Ueberblick.). In: Wilhelm Kolle zum 60. Geburtstage. Jena 1928 (Arbeiten aus dem Staatsinstitut für experimentelle Therapie und dem Georg Speyer-Hause zu Frankfurt a. M.; 21), S. 372–386.
  13. BERNSAU, H[elmut]: Myosalvarsan-Vergiftung, tödliche, medizinale. In: Sammlung von Vergiftungsfällen 2 (1931), S. 49–50.
  14. RIEHL, G[ustav Franz Eugen] / C[arl] BACHEM: Myosalvarsan-Vergiftung, tödliche, medizinale. In: Sammlung von Vergiftungsfällen 2 (1931), S. 51–52.