Objekt des Monats

Blütenzweige auf dem Schädel

Aus der Anatomischen Sammlung: Knochenschädel aus der Anatomischen Sammlung, bemalt, 1822

Eines der merkwürdigsten Objekte in der Anatomischen Sammlung ist der eher kleine und zarte Knochenschädel mit der Inventarnummer OCP 083. Inventarisiert wurde er Mitte der 1990er Jahre, davor fehlt von ihm jede Spur in den historischen Katalogen und Sammlungsunterlagen.

Die Suche nach seiner Geschichte beginnt mit seinen äußeren Auffälligkeiten. Der Schädel weist weder anatomische noch pathologische Besonderheiten auf und ist trotzdem in der Sammlung einzigartig. Von den Stirnseiten rankt sich bis zum oberen Hinterkopf ein gemalter Blütenkranz. In den dunkel getönten Augenhöhlen weisen Reste von Farbpigmenten auf eine ehemals goldschimmernde Ausmalung hin. Das Schädeldach und die Stirn sind vollständig mit schwarzen handgemalten Buchstaben und Zahlen beschriftet. Nicht die gesamte Aufschrift ist verständlich, doch sie gibt der Toten einen Namen: Maria. Diese „ehrnzichtige Jungfrau“, so heißt es da, sei „zu Fischhaussen gestorwen den 23ten Feb[r]uar 1814“. Ein Sinnspruch und die Zahl 1822 folgen. Offenbar hat nach dem Tod des Mädchens jemand ihren Schädel verziert und ihre Identität schriftlich darauf festgehalten.

Eine solche Praxis war in unseren Breiten vor allem in der Alpenregion von Bayern und Österreich teils bis Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet. Einige Jahre nach der Bestattung wurden die noch erhaltenen Gebeine verstorbener Gemeindemitglieder exhumiert, gereinigt, in der Sonne gebleicht und anschließend in Beinhäusern (Ossarien) ausgestellt. Vermutlich ließ ein Mangel an Begräbnisplätzen diese Form der Zweitbestattung entstehen. Etwa ab 1720 wurden durch beauftragte Maler Aufschriften, Kreuze, Blumen, Laub und Kränze auf die Schädel gebracht, um so die Erinnerung zu unterstützten. Auf Marias Schädel steht die Zahl 1822 somit für das Jahr ihrer Zweitbestattung.

Der in der Aufschrift angegebene Ortsname ist der hilfreichste Anknüpfungspunkt: Fischhausen liegt am Schliersee in der gleichnamigen Gemeinde im oberbayrischen Landkreis Miesbach und damit in dem Gebiet, für welches Schädeldekorationen typisch waren. Die Kirchen- und Gemeindearchive der Gegend können nicht weiterhelfen, jedoch ergibt sich ein Kontakt zu dem Heimatforscher Gerhard Wittich in Fischhausen. Mit seiner Hilfe kann der Inhalt des Textes vollständig gedeutet und auch sonst vieles in Erfahrung gebracht werden. Der Schädel stammt von Maria Eham aus Fischhausen, geboren am 31. Juli 1800 als mittleres von fünf Geschwistern. Ihre Eltern Josef Eham und Theresia Hagnberger waren Bauern. In den Sterbebüchern ist als Marias Todesursache „feb[ris] calid[us]“, hitziges Fieber, vermerkt, was eine alte Bezeichnung für Typhus ist.

Bestattet wurde Maria Eham in der Nebengemeinde Westenhofen, wo sich vermutlich ein Familiengrab befand. Ihr Schädel wurde nach einigen Jahren vielleicht aus Platzgründen ausgegraben und 1822 entweder im Beinhaus oder in der Kirche von Westenhofen ausgestellt. Denkbar ist auch, dass die Familie den Schädel zur täglichen Erinnerung auf ihrem eigenen Gehöft aufbewahrte.

Wie kam der Schädel schließlich in die Jenaer Anatomische Sammlung? Eine direkte Verbindung existierte über ein Ferienheim, dass die in Jena ansässige Firma SCHOTT ab 1934 in Schliersee unterhielt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde es allerdings von SCHOTT in Mainz betrieben und Ende der 1990er Jahre geschlossen. Konkrete Informationen über den Weg des Schädels nach Jena gibt es bisher nicht. Zumindest dieser Teil seiner Geschichte bleibt also weiterhin rätselhaft.

Erklärung der Schädelaufschrift:

Die ehrnzichtige Jungfrau Maria / Ehhamin Baurs Dochder von Langen Baurn / zu Fischhaussen gestorwen den 23ten Febuar / 1814. 12 ur Awends war die lezde Stude mein / Niemand weis wan kamt die sein. / Mein Lewen war / Nur 13zehen Jahr. / 1822.

Die ehrbare und züchtige Jungfrau Maria Ehamin [weibliche Form des Nachnamens], Bauerntochter von [dem Gehöft] Langen-Baurn in Fischhausen, gestorben den 23ten Februar 1814. 12 Uhr abends war die letzte Stunde mein, niemand weiß, wann kommt die sein‘. Mein Leben war nur 13 Jahr‘. 1822.

Quellen:
Vielen Dank an Gerhard Wittich (Heimatforscher), Dr. Roland Götz (Archiv und Bibliothek des Erzbistums München und Freising), Judith Hanft (Konzernarchiv der SCHOTT AG) und Barbara Wank (Stadtarchiv Miesbach) für ihre freundlichen Auskünfte, sowie an Gina Grondt (Restauratorin, FSU Jena) und Prof. Dr. Dr. Christoph Redies (Professor für Anatomie, UKJ Jena) für die Begutachtung des Schädels.
Sörries, Reiner: Bemalte Totenschädel – Eine bemerkenswerte Form der Memorialkultur in den süddeutschen und westösterreichischen Beinhäusern. In: Alfried Wieczorek/ Wilfried Rosendahl (Hrsg.): Schädelkult – Kopf und Schädel in der Kulturgeschichte des Menschen. Begleitband zur Sonderausstellung im Reiss-Engelhorn-Museum Mannheim vom 02.10.2011 bis 29.04.2012. S. 257 – 261.
Digitales Archiv des Erzbistums München und Freising, Schliersee St. Sixtus 1604-1949, Sterbefälle 1777-1822, Signatur CB412, M6473. Digitale Ressource: https://digitales-archiv.erzbistum-muenchen.de/actaproweb/archive.jsf?id=Vz++++++C1152055-996A-464F-80F9-BD505461D7FE&parent_id=#Vz______C1152055-996A-464F-80F9-BD505461D7FE (letzter Zugriff: 26.05.2021, 8:51 Uhr).

Aus der Anatomischen Sammlung:
Knochenschädel, bemalt, 1822,
Material/Maße, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Anatomische Sammlung
InvNr. OCP 083.

Dr. Ulrike Lötzsch