Besondere anatomische Erscheinungen wurden im 19. und 20. Jahrhundert gern als Gipsabgüsse dokumentiert und in Kopien verbreitet. In der Jenaer Anatomischen Sammlung befinden sich u.a. diese zwei Abformungen eines kleinen behaarten Kopfes, die jeweils die obere Hälfte bis zur sprichwörtlichen Hutschnur zeigen. Inventarisiert waren sie bisher ohne weitere Angaben als „Kopfabguß vom Affen“. Einritzungen auf den Unterseiten beider Gipse entpuppten sich als ältere Inventarnummern aus dem historischen Sammlungskatalog. Die zugehörigen Einträge wurden dort 1868 vorgenommen, bestehen allerdings nur aus der Abkürzung „Microceph.“ für „Mikrozephalie“. Damit wird die Ausbildung eines ungewöhnlich kleinen Kopfes bezeichnet. Also doch kein Affe?
Ein Zufallsfund in den Akten des Anatomischen Instituts im Universitätsarchiv bringt Licht in die Angelegenheit. Dort ist der Brief eines Georg Becker aus Offenbach vom 6. Januar 1868 erhalten, in welchem er den damaligen Anatomieprofessor Carl Gegenbaur informierte: Als ich am Schluße des vorjährigen Sommer-Semesters bei Ihnen in Jena war, um Ihnen mein Kind, Microcephalus, vorzustellen, beauftragten Sie mich, Ihnen 2 Schädelabgüs(s)e hiervon zu übersenden; was hiermit erfolgt. Dieselben sind unter Leitung des H. Professor Dr. Lucae aus Frankfurt genau angefertigt.
Bei dem erwähnten Kind handelte es sich um Helene Becker, geboren am 22. Juni 1864 in Offenbach. Sie war das dritte von neun Geschwistern und das erste von insgesamt vier Kindern mit Mikrozephalie in derselben Familie. Der geschäftstüchtige Vater ließ die mikrozephalen Kinder in größeren Städten gegen Geld sehen. Wissenschaftler und Ärzte durften zusätzlich Untersuchungen durchführen und die Kinder bei Vorträgen präsentieren. Über Helene wurden mehrere medizinische Berichte veröffentlicht, der ausführlichste stammt von dem Münchner Anatomen Theodor von Bischoff. Er hatte das geistig stark eingeschränkte Mädchen im Juni 1867 erstmals begutachtet und den Eltern später ihren Leichnam abgekauft. Auch den Körper eines weiteren mikrozephalen Kindes aus der Familie soll er erworben haben.
Zu so gut wie jedem bekannt gewordenen Fall von Mikrozephalie aus dem 19. Jahrhundert erschienen gelehrte Abhandlungen, zum Teil ergänzt durch Büsten und Abgüsse. Die Verfasser waren sich einig, dass sie es mit Entwicklungsstörungen oder Fehlbildungen zu tun hatten, rätselten jedoch über die Ursachen. Differenzen bestanden darüber, ob es sich bei den beobachteten Fällen um spontane „Rückartungen“ (Atavismen) handeln könne, bei denen sich eine urgeschichtliche, affenähnliche Vorstufe des modernen Menschen ausgebildet habe. Gegner dieser Theorie, darunter der erwähnte Theodor von Bischoff, argumentierten allerdings richtig, dass solche Wechsel in andere Spezies nicht möglich sind. Auch der im Brief genannte Johann Christian Gustav Lucae, Anatom und Spezialist für Schädelpathologien in Frankfurt am Main, beteiligte sich an den Diskussionen um Mikrozephalie. Ihn beschäftigte die Frage, inwieweit Bau und Wachstum des Schädels auf die Größe des Gehirns einwirken oder sich an diese anpassen.
Heute ist bekannt, dass ein Minderwuchs des Kopfes sowohl durch die vorzeitige Verknöcherung aller Schädelnähte (Kraniostenose), als auch durch Fehlentwicklungen des Gehirns entstehen kann. Im letzteren Fall liegen entweder genetische Defekte vor, oder das kindliche Gehirn wurde während der Schwangerschaft durch bestimmte Virusinfektionen, Drogenmissbrauch oder Strahlung geschädigt. Die Folge sind meist schwere geistige Beeinträchtigungen, bei komplexen Syndromen kommen körperliche Einschränkungen und Fehlbildungen hinzu.
Helene Becker wurde übereinstimmend als zu keiner Entwicklung fähig und vollständig pflegebedürftig beschrieben. Das Unterhaltungsblatt „Die Gartenlaube“ bezeichnete das Mädchen ungerührt als „ein völlig unnützes Mitglied der menschlichen Gesellschaft“ und gab damit wohl eine allgemeine Überzeugung wieder. Auf staatliche Unterstützung oder therapeutische Einrichtungen zur Versorgung und Pflege ihrer Tochter jedenfalls konnte Familie Becker damals nicht hoffen. Entsprechend gering waren ihre Skrupel, mit ihren mikrozephalen Kindern Geld zu verdienen. Helenes Schicksal haben diese Einkünfte aber offenbar kaum gemildert. Neben Erkältungskrankheiten und Augenentzündungen, die schließlich zu einseitiger Blindheit führten, stellten die Mediziner bei ihr einen schlechten Ernährungszustand und nach etwa sechs Jahren Rachitis fest. Bischoff zufolge muss das Mädchen in den letzten Lebensmonaten unter starken Gliederschmerzen, Lähmungen und zusätzlich einer Lungenentzündung oder Tuberkulose gelitten haben. Am 20. Februar 1872 starb Helene mit siebeneinhalb Jahren im Haus ihrer Familie.
Dr. Ulrike Lötzsch
Quellen:
Brief des Georg Becker aus Offenbach an Carl Gegenbaur in Jena, 6. Januar 1868. Universitätsarchiv Jena, Bestand S, Abteilung XXXVIII, No. 50.
Bischoff, Theodor L. W. v.: Anatomische Beschreibung eines mikrocephalen 8jährigen Mädchens, Helene Becker aus Offenbach. In: Abhandlungen der mathematisch-physikalischen Classe der königlichen baierischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 11. München 1874. S. 119-186 und Fig. I bis XIII.
Büchner, Louis: Zwei Affen-Menschen. In: Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. Hg. v. Ernst Keil. Nr. 44. Leipzig 1869. S. 696 ff.
Pott, Richard: Ein microcephalisches Mädchen. Nach einem im Verein der praktischen Aerzte zu Halle a/S., Sommer 1877, gehaltenen Vortrage. In: Jahrbuch für Kinderheilkunde und physische Erziehung. Neue Folge. Bd. XIV. Leipzig 1879. S. 273-276.