Objekt des Monats

Richard Semon and the forgotten M[n]eme

Titelblatt von Richard Semons Werk über die Mneme (Scan ThULB)

Das Meme – aus dem heutigen Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken, hat es vor allem im Internet seine ganz eigene Subkultur gebildet, der sich ganze Websites widmen.

Aber was überhaupt ist ein Meme, „Ist er ein Genius, ein Dämon? […] gar ein Lufthauch der Mode […]? Woher kommt er? wohin will er? […] kann man ihn lenken?“ (Herder, 1793, S. [5].)

1979 prägte der Evolutionsbiologe Richard Dawkins den Begriff Meme in seinem Buch The Selfish Gene. Dawkins ist der Meinung, die kulturelle Transmission ist der genetischen ähnlich, da diese eine Form der Evolution hervorrufen kann (Dawkins 1979, S. 245). Für diesen neuartigen Replikator, der die Idee einer kulturellen Transmission oder Nachahmung vermittelt, wählte er den Begriff meme, abgewandelt aus dem altgriechisch mīmēma, das so viel wie „nachgeahmt“ bedeutet. Dawkins zufolge stellt ein Meme ein autonomes Konstrukt dar: Wie sich Gene im Genpool verteilen, indem sie über Spermien oder Eier von Körper zu Körper gelangen, verteilen sich seiner Vorstellung nach Memes im Meme-Pool, indem sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, was Dawkins im weitesten Sinne als Nachahmung bezeichnet (Dawkins 2016). Im Jahr 2013 äußerst sich Dawkins über seinen ursprünglichen Gedanken, denn die „Idee des Meme’s selbst ist mutiert und hat sich in eine neue Richtung entwickelt […]“ (Dawkins, 2013, 04:09-04:14) (Feast 2014). Das Internet hat die „Idee des Memes gehijacked“ und als Grundstein gilt Scott E. Fahlmans „sideways smiles face“  „:-)“ , der damit bereits am 19. September 1982 das wohl erste „Internet Meme“ kreierte (Börzsei 2013). Der partizipative Charakter des Internets hat Memes zu einem sozialen Phänomen gemacht, das von Internetnutzern selbst geschaffen, verändert und verbreitet werden kann (Barnes, Riesenmy et al. 2021). Memes sind dabei nicht nur eine humorvolle und einfache Art der Kommunikation, sondern lenken auch die Aufmerksamkeit auf brisante kulturelle und politische Themen (Brodie 2009). Das Konzept des heutigen Internet Meme geht zurück auf Mike Godwin (Godwin 1994, Knobel and Lankshear 2007), bei dem es einfach ausgedrückt als eine Art Marker fungiert, der den »Wert und Reichweite« einer Diskussion oder Post festlegt. Ein (Internet) Meme ist also ein Stück Kultur, in Form eines Witzes, das durch die Verbreitung im Internet an Einfluss gewinnt (Davison 2012). Memes sind in der Regel leicht zu begreifen, aber nicht alle können ohne gewisse Vorkenntnisse verstanden werden.

Doch was hat Dawkins Meme mit dem Objekt des Monats und der Friedrich-Schiller-Universität Jena gemein? Im Bestand der ThULB befindet sich ein Exemplar von Richard Semons »Die Mneme«, ein Geschenk von Ernst Haeckel an die ehemalige Bibliothek des Zoologischen Institutes. Richard Semon (1859-1918) hat 1879 bei Ernst Haeckel Zoologie studiert und war später über 10 Jahre an der Universität Jena tätig. Semon erlangte internationale Bekanntheit durch seine Forschungsreise und Publikation zum »Ceratodus« (Australischer Lungenfisch) (für weitere Informationen s. Uschmann 1959, Hoßfeld 2005).

In München publizierte Semon im Jahr 1904 sein Buch Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Wie schon der Titel erahnen lässt, ist Dawkins Idee des Meme keinesfalls eine neuartige Überlegung. Erste genauere Überlegungen finden sich z.B. bei Erasmus Darwins Zoonomia (Darwin 1794/96).

Semons Mneme ist ebenfalls altgriechischen Ursprungs und kann als Gedächtnis oder Erinnerung übersetzt werden, zwei Worte die Semon aber bereits aus rein polemischen Gründen ablehnte (Semon 1904, S. 20). Semon vertrat die Ansicht, dass Reize eine engraphische Wirkung auf einen Organismus haben, „weil sie sich in die organische Substanz sozusagen eingräbt oder einschreibt“. Diese Veränderung des betreffenden Reizes bezeichnet Semon als Engramm. Die Summe der Engramme eines Organismus sind seine Mneme. So wie Memes ererbt und erworben werden, können auch Mneme vererbt und erworben werden. Neben seiner Mneme-Theorie definierte und führte Semon auch die Begriffe »Engramm« und »Ekphorie« (der Vorgang des Erinnerns) ein, wofür er heute als Pionier der Neurologie gilt (Josselyn, Köhler et al. 2017, Larner, Leff et al. 2022). Semons Theorie der Mneme ist keinesfalls perfekt und vernachlässigt z.B. die Thematik des Vergessens, doch diese genauer zu erläutern, würde den Rahmen bei weitem sprengen, deshalb soll auf die sehr gelungenen Rezensionen von Daniel Schacter und Stefan Rieger verwiesen werden (Schacter, Eich et al. 1978, Rieger 1998, Schacter 2012). Obwohl die von Semon eingeführten Begriffe noch genutzt werden, kennt so gut wie keiner deren Ursprung oder »Erfinder« (Rupp-Eisenreich 1997, Schacter 2012).

Bis heute gilt Richard Dawkins als „Erfinder des Meme und der Meme- Theorie“ (Vada 2015), obwohl seine Idee und sein Begriff überaus erstaunliche Ähnlichkeiten mit denen Semons aufweist. Schacter (1978 u. 2012) hat bereits mehrfach gezeigt, dass Semons Werke nahezu unbekannt geblieben sind, obwohl es nach Semons Tod, ab 1921, eine englische Version unter dem Titel „The Mneme“ gab (Semon 1921). Die Mneme fand ebenso wie Kritik auch Anklang in der Fachwelt, die Dawkins bereits hätte bekannt sein müssen (Rupp-Eisenreich 1997, Laurent 1999). Unter den Autoren finden sich auch bekannte Größen, wie Semons guter Freund, der Psychiater und Entomologe Auguste Forel, der britische Philosoph Bertrand Russell, der Nobelpreisträger Erwin Schrödinger, die Zoologin und Neurophysiologin Zachary Young und viele weitere. Auch Karl Lashley verzichtete in seiner bekannten Publikation „In search of the engram“ (Lashley 1960) darauf, auf Semon zu verweisen, noch stellt er seine Ideen explizit in Frage, was mit dazu beitrug, dass Semon weitere Jahre in Vergessenheit geriet. Es ist schon schwer vorstellbar, dass Dawkins nicht wenigstens Maeterlinck‘s The Life of the White Ant (1927) kannte, bei dem er über das „Gedächtnis“ von sozialen Insekten nachdachte und z.T. Semons Ideen „engrammata upon the individual mneme“ (S. 198) übernahm (Laurent 1999). Für sein Buch wurden Maeterlinck später schwere Plagiatsvorwürfe gemacht (Vermeulen 2008, Vada 2015). Ob sich Dawkins bei Semon bedient hat, wissen wir nicht. Feststeht jedoch, dass beide von derselben Muse geküsst wurden, denn bis auf einen Buchstaben und etwas mehr als 70 Jahre trennt die beiden Neologismen Mneme und Meme nichts, sogar die Theorie ist nahezu identisch. Doch wie Dawkins 2013 äußerte, dass „die Idee des Memes gehijacked“ wurde, so scheint die Geschichte des M[n]emes auch eine Geschichte über das Hijacken zu sein.

Bernhard Leopold Bock

Literatur:

Barnes, K., et al. (2021). "Dank or not? Analyzing and predicting the popularity of memes on Reddit." Applied Network Science 6(1): 1-24.

Börzsei, L. K. (2013). "Makes a meme instead." The Selected Works of Linda Börzsei: 1-28.

Brodie, R. (2009). Virus of the mind: The new science of the meme, Hay House, Inc.

Darwin, E. (1794/96). "1794–1796. Zoonomia; or, The Laws of Organic Life." Joseph Johnson.

Davison, P. (2012). "The language of internet memes." The social media reader: 120-134.

Dawkins, R. (2016). The Selfish Gene. Oxford, United Kingdom, Oxford University Press.

Feast, M. L. (2014). "Just for Hits Richard Dawkins." YouTube.

Godwin, M. (1994). "Meme, counter-meme." Wired 2(10): 10.

Hoßfeld, U. (2005). "The travels of Jena zoologists in the Indo-Malayan Region." PROCEEDINGS-CALIFORNIA ACADEMY OF SCIENCES 55: 77.

Josselyn, S. A., et al. (2017). "Heroes of the Engram." Journal of Neuroscience 37(18): 4647-4657.

Knobel, M. and C. Lankshear (2007). "Online memes, affinities, and cultural production." A new literacies sampler 29: 199-227.

Larner, A., et al. (2022). "Richard Wolfgang Semon (1859–1918)." Journal of Neurology 269(5): 2822-2823.

Lashley, K. (1960). "In search of the engram." The neuropsychology of Lashley. New York: McGraw-Hill.

Laurent, J. (1999). "A Note on the Origin of ‘Memes’/‘Mnemes’." Journal of Memetics 3(1): 20-21.

Rieger, S. (1998). "Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne." Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72(1): 245-263.

Rupp-Eisenreich, B. (1997). "Culture and memory: reminiscences and symmetries." Diogenes 45(180): 135-154.

Schacter, D. L. (2012). Forgotten ideas, neglected pioneers: Richard Semon and the story of memory, Psychology Press.

Schacter, D. L., et al. (1978). "Richard Semon's theory of memory." Journal of Verbal Learning and Verbal Behavior 17(6): 721-743.

Semon, R. W. (1921). The mneme, G. Allen & Unwin Limited.

Uschmann, G. (1959). Geschichte der Zoologie und der zoologischen Anstalten in Jena 1779-1919, G. Fischer.

Vada, Ø. (2015). "What happened to memetics." Emergence: Complexity & Organization 17(2): 1-5.

Vermeulen, J. (2008). "Cultural diversity in contemporary Flemish fiction." Dutch Crossing 32(1): 28-42.

Herder, Johann Gottfried von: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 2. Riga, 1793, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_humanitaet02_1793/10>, abgerufen am 03.01.2023.